Vor einem Raum morgenmüder Schüler sitzt Lena Gorelik, hält mit einer Hand eine Buchseite ihres neuen Romans und streicht sich mit der anderen durch die dichten, brünetten Locken. Die Zehenspitzen der Dreiundvierzigjährigen reichen knapp an den Parkettboden, der ihre Stimme (sie ignoriert, dass das Mikrofon aus ist) durch den Raum hallen lässt. Die Schriftstellerin und Essayistin liest aus ihrem neuen autofiktionalen Werk “Wer wir sind”.
Mit 11 emigrierten Goreliks Eltern angesichts zunehmendem Antisemitismus von Sankt Petersburg nach Deutschland, sie hinterließen Familienmitglieder, Freunde, Sprache, Zuhause und ihren Hund. Diese Reise ins Unbekannte brachten dem jungen Mädchen gleichermaßen Verlust wie Zukunft, Abschied wie Ankunft, eine Ankunft, die sie, wie die Autorin meint, erst Jahre später vollendete.
In ihrem Roman versucht sie erstmals ihre eigene Geschichte zu erkunden, Traumata und schöne Erinnerungen in Worte zu fassen, dabei skizziert sie anachronistisch Episoden aus ihrer turbulenten Kindheit.
Sie liest uns von ihrem Abschied aus Sankt Petersburg und ihrem ersten Tag in Deutschland vor, dem chaotischen Packen und dem Geruch der Käselaugenstangen am Berliner Ostbahnhof. Mit energischer Detailliebe beschreibt ihre kräftige Stimme den Abschied am Bahngleis und die erste gelbe Banane im neuen Zuhause. Gewitzt behandelt Lena Gorelik auch auf der Metaebene ihre eigenen Erinnerungen. So lacht die Autorin mittlerweile darüber, wie sie damals versuchte, die Erinnerung an den Abschied festzuhalten, jedoch nur den Versuch daran wirklich in ihrem Gedächtnis verankerte. Sprachlich zeigt ihr Roman eine schlichte Eleganz, durchbrochen von Erinnerungen, die sich kaum aus dem Russischen übersetzen lassen, was die Autorin dann auch nicht tut: in kyrillischer Schrift, und ganz ohne Transliterationen träupfeln russische Wörter und Teilsätze ihr Werk.
In einer Fragerunde stellt sie sich mutig den interessierten Schülern. Dabei steht das Genre der Autofiktion im Fokus: Erinnerung und Fiktion verschwimmen für Lena Gorelik im Schreibfluss, die subjektive Natur der Erinnerung lasse das zu. Dass diese subjektive Perzeption von realen Tatsachen auch echte Menschen beschreibt, teilweise enge Familienmitglieder, hielt die Literatin lange davon ab, ihre sporadisch entstandenen autobiographischen Rückblenden zu veröffentlichen. Erst die Zustimmung ihrer Eltern war für sie das entscheidende Signal, sich dem Werk zu widmen: Einem Werk, das sich für sie gleichermaßen wie ihre eigene Geschichte und wie Kunst anfühlt.
Auf meine Leseliste kommt “Wer wir sind” auf jeden Fall, und auch in der Region bleibt Lena Gorelik zunächst einmal, am 18. Juli liest sie in Marbach am Necker aus ihren Werken, was den Weg wert sein muss!
Felix Polianski, JS 1